Vom Unterrichten der Bibel im »Ausnahmezustand«: Reflexionen über die hermeneutische Aufgabe eines neutestamentlichen Historikers nach dem 11. September 2001

Zur Verortung des Beitrags von Laurence L.Welborn Wenige Tage nach dem 11. September sah ich in einer Nachrichtensendung der Deutschen Welle ein Live-Interview mit dem bekannten Psychologen H.E. Richter. Er sollte aus seiner Perspektive zu den Ereignissen Stellung nehmen. Richter warnte vor Schwarz-...

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Détails bibliographiques
Auteur principal: Welborn, Laurence L. 1953- (Auteur)
Type de support: Électronique Article
Langue:Allemand
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Publié: 2002
Dans: Zeitschrift für Neues Testament
Année: 2002, Volume: 5, Numéro: 10, Pages: 2-12
Accès en ligne: Volltext (lizenzpflichtig)
Édition parallèle:Non-électronique
Description
Résumé:Zur Verortung des Beitrags von Laurence L.Welborn Wenige Tage nach dem 11. September sah ich in einer Nachrichtensendung der Deutschen Welle ein Live-Interview mit dem bekannten Psychologen H.E. Richter. Er sollte aus seiner Perspektive zu den Ereignissen Stellung nehmen. Richter warnte vor Schwarz-Weiß-Malerei, nach der wir die Guten und die anderen die Bösen seien. Weit kam der renommierte Friedensforscher mit seinen Ausführungen nicht: Mit barschem Ton brach der junge Moderator das Gespräch vor laufender Kamera ab. Ich wurde Zeuge dieses Vorfalls in großer Entfernung von Europa. Mit Entsetzen nahm ich den Unwillen des Moderators zur differenzierten Betrachtung zur Kenntnis. Solch eine Haltung hätte mich allerdings nicht überrascht, wäre sie von einem amerikanischen Interviewer eingenommen worden. Nun liegt uns ein wiederum überraschender Beitrag des amerikanischen Neutestamentlers Laurence L. Welborn vor. Es ist durchaus erstaunlich, hier eine klare Stimme zu vernehmen, die einen ernsthaften Dialog mit Vertretern des Islam einfordert, zur Versöhnung angesichts der durch Menschen hervorgerufenen Katastrophen aufruft und Schuld eingesteht. Die wahren Gegner von Frieden und Gerechtigkeit sieht Welborn in den christlichen Fundamentalisten unter seinen eigenen Landsleuten. Anders als etwa in Deutschland üben jene einen beträchtlichen kirchlichen und gesellschaftlichen Einfluss aus. Gegen diese Front hat sich historisch-kritische Forschung in den USA auch heute noch zur Wehr zu setzen. In den letzten Jahrzehnten kommen verstärkt die wesentlichen Impulse in den Bibelwissenschaften aus den USA. Der dort stark vorangetriebene interdisziplinäre Austausch zeitigt vielversprechende Ergebnisse in beinahe jedem Spezialgebiet neutestamentlicher Forschung. Bislang sicher geglaubte Erkenntnisse müssen neu überdacht werden. Sich hier vollziehende Paradigmenwechsel sind zumeist das Verdienst amerikanischer Forschung. Der 11. September ist an den Exegeten und Exegetinnen in den USA nicht spurlos vorbeigegangen. Welborns Beitrag stellt eine Antwort auf das unfassbare Geschehen dar. Er spricht sicher für viele, wenn auch nicht für die Mehrheit der amerikanischen Fachkollegen und -kolleginnen. Seine ethischen Reflexionen zur hermeneutischen Aufgabe von neutestamentlichen Historikern angesichts des 11. Septembers stellen eine Spielart von Befreiungstheologien US-amerikanischer Provenienzen dar, vgl. Black Theology, Womanist Theology, Feminist Theology, Post-Colonial Criticism, etc. Von Welborns Beitrag werden nicht nur Anregungen ausgehen. Er mag auch hier und da Unverständnis hervorrufen. Allerdings werden Europäer bei aller tiefen Betroffenheit das Ausmaß der bis ins Mark gehenden und anhaltenden existentiellen Erschütterung, der sich US-Bürger angesichts des 11. Septembers ausgeliefert sehen, kaum in Gänze erfassen. Welborn stellt die Frage nach der Ethik exegetischer Arbeit. Diese Frage ist im hiesigen Kontext höchstens ansatzweise bedacht worden. Sie harrt - diesseits und jenseits des Atlantiks - der Aufarbeitung. Werner Kahl
ISSN:2941-0924
Contient:Enthalten in: Zeitschrift für Neues Testament